Ein wichtiger, oft missachteter Grundsatz der Filmkritik lautet: man darf einen Film nur für das kritisieren, was er ist …
 
You are a mistake
 
Wir erinnern uns: in Teil Eins hat der ehemalige finnische Soldat Aatami Korpi in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs a) mehr Gold gefunden als Dagobert Duck, b) mehr Wehrmachtssoldaten ermordet als die gesamte Rote Armee und c) mehr schwere Verletzungen überstanden als Evel Knievel und Jackie Chan zusammen. In Teil zwei reist er nun in seine alte Heimat, den mittlerweile von der Sowjetunion annektierten Teil Finnlands, um a) sein altes Haus abzubauen und an einem sichereren Ort wiederaufzubauen, b) wohl zum Ausgleich mehr russische Soldaten zu töten als die deutsche Wehrmacht, c) mehr schwere Verletzungen zu überstehen als in Teil Eins und d) ganz allgemein mehr Schaden anzurichten als John Rambo in allen fünf Filmen …
 
Filmkritiker vergessen oft und gern, dass man einen Film nur für das kritisieren darf, was er ist und nicht für das, was er nicht ist. Es geht nicht darum, ob eine neue Comic-Verfilmung so gut ist wie „Casablanca“ oder „Der Pate“. Es geht darum, ob so ein Film so gut ist wie „The Dark Knight“ oder „Thor: Ragnarok“. Ich kann eine neue Rom-Com nicht mit „Lawrence von Arabien“ oder „The Good, the Bad and the Ugly“ vergleichen. Ich muss sie mit Filmen wie „Der Volltreffer“ und „Vier Hochzeiten und ein Todesfall“ vergleichen. „Sisu: Road to Revenge“ ist ein ganz besonderer Fall.
 
Bereits der erste Teil, „Sisu“, war nicht bloß ein Vertreter des in den letzten Jahren so populären Subgenres „Mann-in-mittleren-Jahren-verprügelt-und-erschießt-ganz-viele-Leute“-Film. Nein, bereits der erste Teil war einer der schrägsten Vertreter dieses ohnehin an schrägen Beispielen nicht armen Subgenres. Während „Taken“ ein Film für Männer ist, die meinen, bei ihrer Scheidung übervorteilt worden zu sein, „John Wick“ Männer anspricht, die beim geringsten Kratzer an ihrem Auto bewaffnet losziehen möchten und „The Equalizer“ der Film für Männer ist, die „Taxi Driver“ nie gesehen haben, gemacht von Männern, die „Taxi Driver“ nie verstanden haben, kam mit „Sisu“ vor drei Jahren ein „Mann-in-mittleren-Jahren-verprügelt-und-erschießt-ganz-viele-Leute“-Film raus, der maßgeschneidert war für alle Filmfans, die den Zweiten Weltkrieg für eine Art sehr langes Computerspiel halten.
 
Und weil es auf der Welt jede Menge Männer gibt, den Zweiten Weltkrieg für eine Art sehr langes Computerspiel halten und vielleicht Angst vor dem eigenen Altern haben, war „Sisu“ der erfolgreichste finnische Film des Jahres 2022. Und weil Männer, die glauben, man könne sich mit einer Spitzhacke an einem startenden Flugzeug festhalten, auch glauben werden, man könne mit einem schwer überladenen, alten Panzer einen Salto über einen Grenzposten schlagen, kommt jetzt Teil Zwei in die Kinos.
 
Daher ist es auch müßig, weiter über die Kapriolen zu berichten, die sowohl die Handlung als auch der Panzer im Film schlagen. Ein Film wie „Sisu: Road to Revenge” hat keine “Handlung“ im engeren Sinne des Wortes. „Mann-in-mittleren-Jahren-verprügelt-und-erschießt-ganz-viele-Leute“-Filme haben anstelle einer Handlung einen losen roten Faden, der verschiedene Gewaltdarstellungen miteinander verbindet. Im Falle von „Sisu: Road to Revenge” hat dieser lose rote Faden viele Knoten, die mit Logik kaum zu lösen wären. Drehbuchautor und Regisseur Jalmari Helander hat aber seinen Plutarch aufmerksam gelesen und lässt seinen Helden immer und immer wieder auf die gleiche Lösung kommen, auf die schon Alexander der Große verfallen ist.
 
Und so hackt und sticht, schlägt und schießt sich „Der Unsterbliche“ Aatami Korpi wieder quer durch die karelische Landenge und 88 Minuten Film. Das alles ist gar nicht schlecht gemacht, zuweilen sogar auf sehr schräge Art und Weise unterhaltsam. In einer Szene sucht ein Rotarmist Schutz hinter einer Deckung, die sich als zu niedrig herausstellt, als ihm die Finger beider Hände weggeschossen werden, mit denen er seinen Helm festhält. Während er entsetzt auf die blutenden Stümpfe seiner Finger starrt, wird ihm der Helm weggeschossen und dann natürlich auch noch der Teil seines Kopfes, der bis eben noch vom Helm bedeckt war. So geht das.  
 
There are worse things than death
 
Leider kann nie richtige Spannung aufkommen, weil Aatamis Gegner sich alle so haarsträubend dumm anstellen, dass die meisten auch ohne sein Zutun eher früher als später ums Leben gekommen wären. Wer sich so blöd anstellt, wie die ewig nur einzeln angreifenden Bösewichte in diesem Film, hätte sich wohl auch bald aus Versehen mit den eigenen Schnürsenkeln stranguliert, sich beim Essen mit einer Gabel erstochen oder wäre auf der Toilette ertrunken.
 
In einer Sequenz wird Aatamis LKW (übrigens ein höchst anachronistisches Gefährt, das der Held wohl gebraucht auf der „Fury Road“ erstanden haben muss) von zwei sowjetischen Tieffliegern angegriffen. Die Bedeutung des Begriffs „Tiefflieger“ ist mir klar. Aber es gibt Tiefflieger und es gibt Zu-tief-Flieger. Und dann gibt es die beiden Piloten in diesem Film, bei denen man sich fragen muss, ob sie sich bei der sowjetischen U-Boot-Flotte nicht viel wohler gefühlt hätten. Auf jeden Fall hätte der Held sie dort wohl nicht ganz so leicht ausschalten können.
 
Im Film kommt auch nie die richtige Spannung auf, weil er mehr bloße Gewalt-Szenen als echte Action-Szenen enthält. Man sieht sehr viel mehr blutende Wunden als spannende, abenteuerliche Aktionen. Ja, es gibt den bereits erwähnten Salto eines Panzers zu sehen und an anderer Stelle sehen wir einen Güterzug mit Raketenantrieb. Aber viel öfter sehen wir bloße Gewaltdarstellungen, die bald langweilig werden und an mehr als einer Stelle auch unnötig wirken, etwa wenn der Held barfuß in Glasscherben tritt, die leicht zu umgehen wären.
 
Dieses ganzen Hauen und Stechen dauert gerade mal 88 Minuten, die einem dann doch gar nicht so kurz vorkommen. Ein Epilog in Finnland ist nett gemeint, aber ungeschickt gemacht und zeigt bloß, dass Hauptdarsteller Jorma Tommilla zwar als blutüberströmte, nonverbale Kampfmaschine überzeugen kann, nicht aber in dramatischen Szenen.
 
Richard Brakes Gesicht haben wir alle in Dutzenden Filmen  gesehen („Batman Begins“, „Kingsman“, …). Seinen Namen kennt aber niemand. Daran wird sich nach seiner generischen Darstellung eines generischen Bösewichts in diesem Film auch nichts ändern.
 
Stephen Lang war ein renommierter Bühnenschauspieler und gelegentlicher Nebendarsteller in Hollywood, bevor er 2009 in James Camerons „Avatar – Aufbruch zu einer unnötig langen Filmreihe“ den rücksichtslosen Bösewicht spielen durfte. Seither hat er den rücksichtslosen Bösewicht in weiteren Filmen wie „Mortal Engines“ oder „Don’t Breathe“ gespielt und darf ihn sogar in einer sich ständig ändernden, unüberschaubaren Anzahl von Fortsetzungen von „Avatar“ spielen. Seine Darstellung des rücksichtslosen Bösewichts in „Sisu: Road to Revenge“ bietet wenig Überraschendes.
 
Fazit
 
Man darf einen Film nun mal nur für das kritisieren, was er ist. „Sisu: Road to Revenge” ist ein „Mann-in-mittleren-Jahren-verprügelt-und-erschießt-ganz-viele-Leute“-Film für Leute, die meinen, die „Fury Road“ hätte durch die Sowjetunion der Nachkriegszeit geführt. Dafür ist der Film gar nicht schlecht geraten.
 
 
Autor: Walter Hummer